Veröffentlicht am Mai 11, 2024

Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen ist keine bloße Energiefrage, sondern das unsichtbare Betriebssystem unserer globalen Zivilisation. Dieses System hat nicht nur unser Klima destabilisiert, sondern auch unsere geopolitischen Konflikte, unsere Wirtschaftsstrukturen und unsere gesellschaftliche Trägheit tiefgreifend geprägt. Der Ausstieg ist daher weniger ein technologischer Wechsel als vielmehr eine systemische Revolution, die ein Umdenken in Politik, Finanzwesen und unserem täglichen Leben erfordert.

Jeden Tag werden wir mit den Symptomen konfrontiert: schwankende Energiepreise an der Zapfsäule, Nachrichten über geopolitische Spannungen in rohstoffreichen Regionen und die immer spürbareren Folgen des Klimawandels in Form von Extremwetterereignissen. Die üblichen Antworten scheinen naheliegend: Wir müssen auf erneuerbare Energien umsteigen, Energie sparen und klimafreundlicher leben. Doch diese Ratschläge, so richtig sie im Einzelnen sind, greifen oft zu kurz. Sie behandeln die Symptome, ohne die tief verwurzelte Ursache des Problems zu adressieren.

Was wäre, wenn die eigentliche Herausforderung nicht darin besteht, eine Energiequelle durch eine andere zu ersetzen, sondern darin, ein ganzes Betriebssystem zu demontieren, auf dem unsere moderne Welt seit über einem Jahrhundert aufgebaut ist? Die fossile Abhängigkeit ist mehr als nur eine technische Gegebenheit; sie ist eine kulturelle, wirtschaftliche und politische Fessel. Sie hat die Art und Weise geformt, wie wir wirtschaften, Kriege führen und unsere Städte bauen. Diese Abhängigkeit hat eine enorme Trägheit geschaffen, eine „Pfadabhängigkeit“, die den Wandel so unendlich schwer macht.

Dieser Artikel nimmt Sie mit auf eine Reise in den Maschinenraum unserer fossilen Zivilisation. Wir werden die einfache Physik hinter der globalen Erwärmung beleuchten, die blutigen geopolitischen Kosten unserer Sucht nach Öl aufzeigen und die systemischen Hürden analysieren, die einen schnellen Ausstieg verhindern. Indem wir die Verflechtungen zwischen Energie, Geopolitik und globalen Finanzströmen verstehen, wird die Dringlichkeit, diese Fesseln zu sprengen, in ihrer ganzen Tragweite deutlich.

Als kritischer Impuls, der die öffentliche Debatte über politische Trägheit in Deutschland maßgeblich beeinflusst hat, zeigt das folgende Video exemplarisch die wachsende Ungeduld der Zivilgesellschaft. Es verdeutlicht, warum ein rein technischer Diskurs nicht ausreicht, um den notwendigen Wandel herbeizuführen.

Um die komplexen Zusammenhänge unserer Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen vollständig zu erfassen, gliedert sich dieser Artikel in mehrere Schlüsselbereiche. Von den wissenschaftlichen Grundlagen über die geopolitischen Verstrickungen bis hin zu den politischen und wirtschaftlichen Lösungsansätzen werden wir das Thema Schicht für Schicht analysieren.

Die einfache Physik des Klimawandels: Warum die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas die Erde aufheizt

Im Kern ist der Klimawandel ein simples physikalisches Phänomen. Wenn wir Kohle, Öl und Gas verbrennen, um Energie zu gewinnen, setzen wir riesige Mengen an Kohlendioxid (CO2) und anderen Treibhausgasen frei. Diese Gase legen sich wie eine unsichtbare Decke um die Erde. Sonnenlicht kann diese Decke zwar passieren und die Erdoberfläche erwärmen, doch die von der Erde abgestrahlte Wärme wird daran gehindert, zurück ins All zu entweichen. Dieser sogenannte Treibhauseffekt ist an sich natürlich und lebensnotwendig, doch durch menschliche Aktivitäten haben wir seine Wirkung dramatisch verstärkt.

Die Konzentration von CO2 in der Atmosphäre ist heute so hoch wie seit Hunderttausenden von Jahren nicht mehr. Diese zusätzliche Wärme bringt das gesamte Klimasystem aus dem Gleichgewicht. Das Ergebnis sind nicht nur graduell steigende Durchschnittstemperaturen, sondern vor allem eine Zunahme von Extremwetterereignissen. Hitzewellen werden intensiver, Dürren länger und Niederschläge heftiger. Die verheerende Flutkatastrophe im Ahrtal 2021, die über 180 Menschenleben forderte, wird von Klimaforschern als direkte Folge dieser Entwicklung eingeordnet. Die wärmere Atmosphäre konnte extrem viel Wasser aufnehmen und schlagartig freisetzen – eine Katastrophe, die ohne den menschengemachten Klimawandel in dieser Form kaum denkbar gewesen wäre.

Für Deutschland ist die Faktenlage erdrückend: Laut einem Bericht des Umweltbundesamtes entstehen über 80% der Treibhausgasemissionen aus der Verbrennung fossiler Brennstoffe. Das bedeutet, dass unser Wohlstand, unsere Mobilität und unsere Industrie direkt für die Destabilisierung des Klimas verantwortlich sind. Die große Gefahr liegt dabei in den sogenannten Kipppunkten, wie die folgende Visualisierung andeutet.

Visualisierung der kritischen Kipppunkte des Klimasystems für Deutschland und Europa

Diese Kipppunkte sind Schwellenwerte im Klimasystem, deren Überschreitung unumkehrbare, kaskadenartige Veränderungen auslösen kann – etwa das Abschmelzen der Eisschilde oder das Versiegen wichtiger Meeresströmungen. Die fossile Abhängigkeit ist somit kein abstraktes Problem, sondern ein direkter Angriff auf die Stabilität unserer Lebensgrundlagen.

Blut für Öl: Die dunkle Seite unserer Abhängigkeit und ihre geopolitischen Kosten

Die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen hat nicht nur das Klima, sondern auch die Weltkarte der Macht und Konflikte gezeichnet. Seit Beginn des Ölzeitalters ist der Zugang zu und die Kontrolle über Öl- und Gasreserven ein zentraler Treiber von Geopolitik, Allianzen und Kriegen. Der Begriff „Blut für Öl“ ist keine bloße Polemik, sondern beschreibt eine düstere Realität, in der die Sicherung von Energieressourcen militärische Interventionen und die Unterstützung undemokratischer Regime rechtfertigt.

Die Konzentration der wichtigsten Vorkommen in wenigen, oft politisch instabilen Regionen schafft eine permanente globale Spannung. Länder wie Deutschland, die stark von Energieimporten abhängig sind, begeben sich in eine strategische Verwundbarkeit. Die Energiekrise nach dem russischen Angriff auf die Ukraine hat dies schmerzhaft offengelegt: Eine jahrzehntelange Abhängigkeit von günstigem russischem Gas wurde über Nacht zu einer massiven wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Bedrohung.

Diese Abhängigkeit wird von einer Industrie befeuert, deren wirtschaftliche Macht kaum zu überschätzen ist. Historische Wirtschaftsdaten belegen, dass die Öl- und Gasindustrie zwischen 1970 und 2020 inflationsbereinigt pro Jahr etwa eine Billion US-Dollar Gewinn machte. Diese enormen Finanzmittel werden nicht nur in die Erschließung neuer fossiler Quellen investiert, sondern auch in massive Lobbyarbeit, um klimapolitische Maßnahmen zu verzögern oder zu verwässern. Die Interessen der fossilen Industrie und die nationale Sicherheit von Importländern verweben sich zu einem komplexen Netz, das den Status quo zementiert.

Selbst jene, deren Vermögen auf Öl aufgebaut wurde, erkennen die unhaltbare Natur dieses Systems an. In einem symbolträchtigen Schritt kündigte die Familie Rockefeller, deren Reichtum aus dem Ölkonzern Standard Oil stammt, an, sich von fossilen Investitionen zurückzuziehen. Ihre Begründung ist ein vernichtendes Urteil über das alte System, wie es im Wikipedia-Eintrag über fossile Energie zitiert wird:

Es [ergibt] keinen Sinn […] weiter in diese Unternehmen zu investieren, während die globale Gemeinschaft die Abkehr von fossilen Brennstoffen vorantreibt.

– Familie Rockefeller, Wikipedia-Eintrag über fossile Energie

Die Fesseln der Vergangenheit: Warum der Ausstieg aus der fossilen Energie so schwerfällt

Obwohl die wissenschaftlichen Fakten eindeutig und die geopolitischen Risiken offensichtlich sind, scheint der Ausstieg aus der fossilen Ära quälend langsam voranzugehen. Der Grund dafür liegt in einem Phänomen, das Ökonomen als „Pfadabhängigkeit“ bezeichnen. Unsere gesamte Infrastruktur, unsere Wirtschaft und sogar unsere Lebensgewohnheiten sind über Jahrzehnte um die Verfügbarkeit von billiger, fossiler Energie herum optimiert worden. Dieses System hat eine Eigendynamik entwickelt, die Veränderungen massiv erschwert.

In Deutschland ist diese Pfadabhängigkeit besonders sichtbar. Die Automobilindustrie, ein Rückgrat der deutschen Wirtschaft, hat ihre Innovationskraft jahrzehntelang auf die Perfektionierung des Verbrennungsmotors konzentriert. Städte wurden für Autos geplant, nicht für Menschen. Die chemische Industrie ist auf fossile Rohstoffe angewiesen. Milliardeninvestitionen sind in Kraftwerke, Pipelines und Raffinerien geflossen – ein Kapitalstock, der nicht über Nacht ersetzt werden kann. Diese Strukturen schaffen eine enorme Trägheit, die oft als Argument gegen einen schnellen Wandel missbraucht wird.

Symbolische Darstellung der industriellen Pfadabhängigkeit Deutschlands

Diese Trägheit wird nicht nur durch physische Infrastruktur, sondern auch durch politische Entscheidungen aktiv aufrechterhalten. Statt den Wandel zu beschleunigen, subventioniert der Staat das fossile System weiterhin mit enormen Summen. Laut Analysen des Umweltbundesamtes subventioniert Deutschland fossile Brennstoffe mit mehreren Milliarden Euro jährlich. Instrumente wie das Dieselprivileg, das Dienstwagenprivileg oder die Kerosinsteuerbefreiung für den Flugverkehr setzen gezielt falsche Anreize. Sie machen umweltschädliches Verhalten künstlich billiger und bremsen so die Wettbewerbsfähigkeit klimafreundlicher Alternativen.

Diese „Fesseln der Vergangenheit“ sind nicht nur materieller Natur. Sie sind auch in den Köpfen verankert – in Form von Gewohnheiten, politischen Ideologien und der Angst vor wirtschaftlichen Verwerfungen. Der Ausstieg erfordert daher mehr als nur neue Technologien. Er erfordert den politischen Mut, bestehende Privilegien abzubauen und den Pfad aktiv in Richtung einer nachhaltigen Zukunft zu verlassen.

Der unsichtbare Feind: Die verheerenden Gesundheitsfolgen der Luftverschmutzung durch fossile Energien

Während der Klimawandel oft als globale und zukünftige Bedrohung wahrgenommen wird, sind die gesundheitlichen Folgen der fossilen Verbrennung hier und heute spürbar. Jedes Mal, wenn wir ein Auto starten, eine Gasheizung betreiben oder Strom aus einem Kohlekraftwerk verbrauchen, werden nicht nur Treibhausgase, sondern auch eine Vielzahl von Luftschadstoffen wie Feinstaub (PM2.5), Stickoxide (NOx) und Schwefeldioxid (SO2) freigesetzt. Diese Schadstoffe sind ein unsichtbarer Feind, der tief in unsere Lungen eindringt und schwere gesundheitliche Schäden verursacht.

Die Liste der Krankheiten, die mit Luftverschmutzung in Verbindung gebracht werden, ist lang und erschreckend: Atemwegserkrankungen wie Asthma und COPD, Herz-Kreislauf-Probleme wie Herzinfarkte und Schlaganfälle, Lungenkrebs und sogar neurologische Störungen. Besonders gefährdet sind Kinder, deren Lungen sich noch in der Entwicklung befinden, sowie ältere Menschen und Personen mit Vorerkrankungen. Die Kosten für das Gesundheitssystem und die Volkswirtschaft sind immens. Laut Berechnungen basierend auf Daten der Europäischen Umweltagentur belaufen sich die jährlichen Kosten für Deutschland durch vorzeitige Todesfälle und Gesundheitsschäden auf rund 60 Milliarden Euro.

Dieses Problem ist in urbanen Zentren, wo Verkehr und Industrie konzentriert sind, besonders akut. Die Belastung ist jedoch nicht überall gleich, wie eine Analyse der Gesundheitskosten pro Einwohner in verschiedenen deutschen Städten zeigt.

Gesundheitskosten der Luftverschmutzung in deutschen Städten
Stadt Kosten pro Einwohner/Jahr Hauptverursacher
München 1.984 € Verkehr, Industrie
Stuttgart ~1.500 € Verkehr, Kessellage
Durchschnitt Deutschland 1.468 € Mix aus Verkehr und Industrie

Diese Zahlen machen deutlich, dass der Ausstieg aus fossilen Energien nicht nur eine klimapolitische Notwendigkeit, sondern auch eine der wirksamsten Maßnahmen für die öffentliche Gesundheit ist. Jeder Euro, der in saubere Luft durch weniger fossile Verbrennung investiert wird, spart ein Vielfaches an Gesundheitskosten und verhindert unzähliges menschliches Leid. Die Energiewende ist somit auch eine Gesundheitswende.

Die Erdgas-Lüge: Warum die vermeintlich „saubere“ Brückentechnologie eine gefährliche Sackgasse ist

Im Diskurs um die Energiewende wird Erdgas oft als „Brückentechnologie“ angepriesen – ein vermeintlich saubererer Partner auf dem Weg weg von der schmutzigen Kohle und hin zu den Erneuerbaren. Dieses Narrativ ist jedoch bestenfalls eine Halbwahrheit und schlimmstenfalls eine gefährliche Irreführung, die uns in neue, langfristige Abhängigkeiten stürzt.

Zwar verbrennt Erdgas im Kraftwerk tatsächlich CO2-ärmer als Kohle, doch diese Betrachtung ignoriert das weitaus größere Problem: Methan (CH4). Methan ist der Hauptbestandteil von Erdgas und ein extrem potentes Treibhausgas. Entlang der gesamten Vorkette – von der Förderung über den Transport in Pipelines bis hin zur Speicherung – entweicht unverbranntes Methan in die Atmosphäre. Diese sogenannten „Methan-Leckagen“ haben eine verheerende Klimawirkung. Wie der Weltklimarat IPCC in seinen Berichten darlegt, ist Methan über einen Zeitraum von 20 Jahren betrachtet 87-mal klimaschädlicher als CO2. Die angebliche Klimafreundlichkeit von Erdgas löst sich bei genauerer Betrachtung in Luft auf.

Die deutsche Gasinfrastruktur ist hierfür ein Paradebeispiel. Trotz technischer Fortschritte entweichen weiterhin erhebliche Mengen Methan. Eine besondere Gefahr geht vom Bau neuer Infrastrukturen aus. Der im Eiltempo vorangetriebene Bau von LNG-Terminals in Wilhelmshaven und Brunsbüttel als Reaktion auf die Gaskrise schafft Fakten für Jahrzehnte. Diese Terminals binden Deutschland an den globalen Markt für Flüssigerdgas, das oft durch umweltschädliches Fracking gewonnen wird, und zementieren eine fossile Abhängigkeit mit geplanten Laufzeiten, die weit über die klimapolitischen Ziele hinausgehen. Statt einer Brücke in die Zukunft baut man eine teure und klimaschädliche Sackgasse.

Die Investition in Erdgas lenkt zudem dringend benötigtes Kapital von den wirklich sauberen Lösungen ab. Jeder Euro, der in eine neue Gaspipeline oder ein neues Gaskraftwerk fließt, fehlt beim Ausbau von Wind- und Solarenergie, bei der Entwicklung von Speichertechnologien und bei der Modernisierung der Stromnetze. Die „Erdgas-Lüge“ ist somit nicht nur eine klimatische, sondern auch eine ökonomische Fehlentscheidung, die die Energiewende verlangsamt und verteuert.

Die neue Seidenstraße: Chinas globaler Masterplan und was er für den Rest der Welt bedeutet

Während der Westen noch tief in den alten fossilen Strukturen verhaftet ist, hat ein anderer globaler Akteur die Zeichen der Zeit erkannt und richtet seine Strategie konsequent auf die Zukunft aus: China. Mit der „Belt and Road Initiative“ (BRI), oft als „Neue Seidenstraße“ bezeichnet, verfolgt Peking einen globalen Masterplan, der die weltweiten Handels- und Investitionsströme neu ordnen soll. Dies hat tiefgreifende Konsequenzen für die globale Energie- und Klimapolitik.

Einerseits investiert China im Rahmen der BRI massiv in fossile Infrastrukturprojekte im Ausland, insbesondere in Kohlekraftwerke, und exportiert damit sein altes, emissionsintensives Entwicklungsmodell. Andererseits hat sich China eine quasi-monopolistische Stellung in den Lieferketten der Energiewende erarbeitet. Ob Solarmodule, Batteriezellen für Elektroautos oder die Verarbeitung Seltener Erden – der Westen ist bei den Schlüsseltechnologien für die Dekarbonisierung in eine neue, gefährliche Abhängigkeit von China geraten.

Diese doppelte Strategie wird in Deutschland besonders deutlich. Der Hafen Duisburg hat sich zum zentralen europäischen Knotenpunkt der Neuen Seidenstraße entwickelt. Wöchentlich treffen dort Güterzüge aus China ein und binden die deutsche Industrie immer enger an die chinesische Wirtschaft. Gleichzeitig steigt der CO2-Ausstoß durch den interkontinentalen Warentransport, und die deutsche Abhängigkeit von chinesischen Vorprodukten für die eigene Energiewende wächst. Wie die renommierte Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) in einer Analyse feststellt, ist diese Dominanz systemisch:

China dominiert die globalen Lieferketten für die Energiewende – von Solarmodulen über Batteriezellen bis zur Verarbeitung Seltener Erden.

– Stiftung Wissenschaft und Politik, Analyse zur globalen Abkehr von fossiler Energie

Für Europa und Deutschland entsteht daraus ein strategisches Dilemma. Der Ausstieg aus der fossilen Abhängigkeit von Russland und dem Nahen Osten droht, durch eine neue technologische Abhängigkeit von China ersetzt zu werden. Eine souveräne europäische Energiepolitik muss daher nicht nur den Ausbau der Erneuerbaren vorantreiben, sondern auch den Aufbau eigener, resilienter und nachhaltiger industrieller Wertschöpfungsketten in den Blick nehmen. Andernfalls tauscht man nur eine Fessel gegen eine andere.

CO2-Steuer oder Emissionshandel: Welches politische Instrument dem Klima am meisten hilft

Um die fossile Abhängigkeit zu durchbrechen, reicht es nicht, auf technologische Innovationen zu hoffen. Es bedarf starker politischer Lenkungsinstrumente, die umweltschädliches Verhalten verteuern und klimafreundliche Alternativen wettbewerbsfähig machen. Die zentrale Idee dahinter ist die Internalisierung externer Kosten: Der Preis für fossile Energien soll die Schäden widerspiegeln, die sie für Klima und Gesundheit verursachen. Die beiden wichtigsten Instrumente hierfür sind die CO2-Steuer und der Emissionshandel (ETS).

Eine CO2-Steuer ist ein staatlich festgelegter Preis auf jede ausgestoßene Tonne CO2. Ihre Stärke liegt in der einfachen Umsetzbarkeit und der hohen Planungssicherheit für Unternehmen und Verbraucher. Der Preis ist bekannt und steigt entlang eines vordefinierten Pfades. Ihre Schwäche: Die tatsächliche Emissionsreduktion ist ungewiss. Wenn der Preis zu niedrig angesetzt ist, verpufft die Lenkungswirkung.

Der Emissionshandel funktioniert andersherum: Der Staat legt eine Obergrenze (Cap) für die Gesamtmenge der erlaubten Emissionen fest. Unternehmen müssen für ihren Ausstoß Verschmutzungsrechte (Zertifikate) erwerben, deren Gesamtmenge begrenzt ist. Der Preis bildet sich durch Angebot und Nachfrage am Markt (Trade). Die Stärke: Die Emissionsreduktion ist garantiert, da die Obergrenze feststeht. Die Schwäche: Der Preis kann stark schwanken und ist schwer vorhersehbar, was Investitionen erschwert. In Deutschland existieren beide Systeme nebeneinander: der europäische EU-ETS für Industrie und Energiewirtschaft und der nationale Emissionshandel (nEHS) für Verkehr und Wärme.

Die entscheidende Frage ist nicht „Steuer oder Handel?“, sondern wie das gewählte Instrument ausgestaltet ist. Für eine wirksame Lenkung muss der Preis hoch genug sein, um Verhaltensänderungen anzustoßen. Experten gehen davon aus, dass erst ein Preis von über 100 Euro pro Tonne eine signifikante Wirkung entfaltet. Ebenso entscheidend ist der soziale Ausgleich. Die Einnahmen aus der CO2-Bepreisung müssen an die Bürger zurückgegeben werden, idealerweise über ein Klimageld pro Kopf, um Härten für einkommensschwächere Haushalte abzufedern.

Ihr Fahrplan für eine effektive CO2-Bepreisung

  1. Einheitlichen Preis etablieren: Sorgen Sie für einen sektorübergreifenden CO2-Preis für Verkehr, Wärme und Industrie, um Wettbewerbsverzerrungen zu vermeiden.
  2. Preispfad definieren: Planen Sie eine schrittweise, aber ambitionierte Erhöhung auf mindestens 100-150 Euro pro Tonne bis 2030, um klare Investitionssignale zu senden.
  3. Sozialen Ausgleich schaffen: Implementieren Sie die vollständige Rückerstattung der Einnahmen als Pro-Kopf-Klimageld, um die Akzeptanz zu sichern und soziale Schieflagen zu vermeiden.
  4. Flankierend investieren: Nutzen Sie einen Teil der Einnahmen für gezielte Investitionen in klimafreundliche Infrastruktur wie ÖPNV, Radwege und Wärmenetze.
  5. International koordinieren: Treiben Sie auf EU-Ebene Mechanismen wie den CO2-Grenzausgleich voran, um die Verlagerung von Emissionen (Carbon Leakage) zu verhindern.

Das Wichtigste in Kürze

  • Unsere Zivilisation basiert auf einem „fossilen Betriebssystem“, das Klima, Geopolitik und Wirtschaft tiefgreifend prägt.
  • Die Abhängigkeit wird durch massive Subventionen und eine fest verankerte Infrastruktur („Pfadabhängigkeit“) künstlich aufrechterhalten.
  • Der Ausstieg ist nicht nur eine Klimafrage, sondern auch eine Notwendigkeit für die öffentliche Gesundheit und die nationale Sicherheit.

Das globale Geld-Netzwerk: Wer die Fäden der Weltwirtschaft wirklich in der Hand hält

Der vielleicht mächtigste Faktor, der das fossile System am Leben erhält, ist das globale Finanznetzwerk. Banken, Versicherungen, Pensionsfonds und Vermögensverwalter haben über Jahrzehnte Hunderte von Milliarden in die fossile Industrie investiert. Diese Investitionen sind nicht nur eine Finanzierungsquelle, sondern auch ein riesiges Machtinstrument, das die Fäden der Weltwirtschaft in der Hand hält.

Solange es profitabler erscheint, in neue Ölfelder zu investieren als in Windparks, wird das Kapital weiter in die Zerstörung des Klimas fließen. Auch deutsche Finanzakteure spielen in diesem globalen Spiel eine wesentliche Rolle. Laut internationaler Finanzmarktanalysen waren deutsche Investoren 2024 auf Platz 10 der globalen Investitionen in die Mineralölindustrie. Dieses Geld von Pensionsfonds und Versicherungen – oft das Geld von uns allen – finanziert damit aktiv die eigene Zukunftsbedrohung.

Doch dieses System birgt ein gewaltiges, systemisches Risiko, das von vielen noch immer unterschätzt wird: die „Carbon Bubble“ oder Kohlenstoffblase. Ein Großteil des Börsenwerts fossiler Konzerne basiert auf der Annahme, dass ihre Reserven an Kohle, Öl und Gas in Zukunft gefördert und verbrannt werden können. Wenn die Weltgemeinschaft jedoch ihre Klimaziele ernst nimmt, muss ein Großteil dieser Reserven im Boden bleiben. Sie werden zu „Stranded Assets“ – wertlosen Vermögenswerten. Das Platzen dieser Blase könnte eine Finanzkrise auslösen, die jene von 2008 in den Schatten stellt. Finanzmarktexperten warnen eindringlich vor den Folgen, wie Analysen zu Stranded Assets zeigen:

Die ‚Carbon Bubble‘ – wertlos gewordene fossile Vermögenswerte – stellt ein systemisches Risiko für deutsche Pensionsfonds und Versicherungen dar.

– Finanzmarktexperten, Analysen zu Stranded Assets im Finanzsektor

Die Bewegung des „Divestment“ – der Abzug von Kapital aus der fossilen Industrie – gewinnt daher an Fahrt. Es ist nicht nur eine ethische Entscheidung, sondern zunehmend auch eine ökonomische Notwendigkeit, um sich vor den finanziellen Risiken des Klimawandels zu schützen. Die Entflechtung des Finanzsektors von der fossilen Industrie ist einer der entscheidendsten Hebel, um das alte Betriebssystem endgültig abzuschalten.

Die Analyse zeigt, dass der Weg aus der fossilen Fessel ein Marathon ist, kein Sprint. Er erfordert nicht nur technologischen Fortschritt, sondern vor allem den politischen Willen, tief verankerte Strukturen aufzubrechen und die Macht der alten Industrien zu begrenzen. Informieren Sie sich, engagieren Sie sich und fordern Sie von der Politik mutige und konsequente Entscheidungen für eine lebenswerte Zukunft.

Häufige Fragen zur Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen

Warum wurde das versprochene Klimageld in Deutschland noch nicht umgesetzt?

Trotz Ankündigung der Ampelkoalition fehlt bisher die technische und administrative Infrastruktur für eine Pro-Kopf-Auszahlung. Kritiker sehen darin mangelnden politischen Willen.

Wie unterscheiden sich nationaler (nEHS) und europäischer Emissionshandel (EU-ETS)?

Der nEHS gilt seit 2021 für Verkehr und Wärme in Deutschland, der EU-ETS seit 2005 für Großindustrie und Energiewirtschaft EU-weit. Beide Systeme haben unterschiedliche Preise und Regelungen.

Wirkt der aktuelle CO2-Preis bereits lenkend auf das Verbraucherverhalten?

Bei aktuell 45 Euro pro Tonne CO2 ist die Lenkungswirkung noch begrenzt. Experten fordern mindestens 100-200 Euro für spürbare Verhaltensänderungen.

Geschrieben von Lukas Meyer, Lukas Meyer ist ein Wissenschaftsjournalist mit 10 Jahren Erfahrung, der sich darauf spezialisiert hat, komplexe Zusammenhänge aus Ökologie, Technologie und Energiewirtschaft verständlich aufzubereiten.